Interview: Katastrophenmedizin für Einsteiger und Fortgeschrittene

München/Buenos Aires, den 19. Juli 2019

Katastrophenpharmazie für Einsteiger und Fortgeschrittene – Interview mit Dr. Carina Vetye

Gesundheitsteams, die in den Einsatz in der Katastrophen- und Nothilfe gehen, haben meist das Interagency Emergency Health Kit (IEHK) der WHO im Gepäck: über 70 Medikamente plus Hilfsmittel, verpackt in mindestens 26 Kisten – über eine Tonne schwer. 2017 überarbeitete die WHO das IEHK und tauschte etliche Arzneimittel aus bzw. fügte neue hinzu. Die argentinisch-deutsche Pharmazeutin Carina Vetye hat nun das Manual für dieses sehr spezifische Medikamentensortiment geschrieben. Das Handbuch enthält eine umfangreiche Liste der häufigsten Indikationen/Diagnosen und Krankheiten im Katastrophenfall und die dazu passenden Arzneimittel, alphabetisch gelistet nach Wirkstoffen. Übersichtlich auf nur einer Seite zusammengefasst, lassen sich alle Angaben zu Darreichungsform und Stärke, Therapie und Dauer, klare Dosierungsangaben für Säuglinge/Kinder und Erwachsene/Senioren, Behandlungsmöglichkeiten für Schwangere/Stillende, Einnahmeart, Gegenanzeigen, Wechselwirkungen, Nebenwirkungen, Maßnahmen bei Überdosierung, Lagerungshinweise und nützliche Tipps für Katastrophensituationen finden. Wir haben mit der Autorin gesprochen:

Wie kamen Sie auf die Idee, das „Manual für das Interagency Emergency Health Kit 2017“ zu schreiben?

Weil ich die Kollegen beim wilden Blättern in vielen Bücher, die widersprüchliche Angaben enthielten oder gar keine, beobachtet habe. Das heißt, man sucht ewig und findet nicht, was man braucht. Und die Patienten müssen warten, obwohl sie dringend schnelle Hilfe benötigen. Eine solche Feldapotheke ist schon ein großer Unterschied zu einer deutschen Apotheke, wie wir sie gewohnt sind. Ich habe selbst nach einem Buch gesucht, dass die passenden Informationen zum IEHK enthält und festgestellt, dass ein solches noch nicht vorhanden ist. Angesichts des großen Leids – der vielen Verletzten und Kranken – und der eh schon großen Belastung der meist ehrenamtlichen Einsatzkräfte in einer Katastrophensituation, fasste ich dann den Entschluss, selbst ein Manual für das IEHK zu schreiben. Patienten sollen schnell versorgt werden, Einsatzkräfte zügig und sicher arbeiten können.

Für wen ist es gedacht?

Für das gesamte Gesundheitspersonal, das in die Nothilfe geht und mit dem Nothilfe-Kit der WHO arbeitet: Ärzte, Apotheker, PTA und Krankenschwestern. Das sind zumeist ehrenamtliche Einsatzkräfte, die wenig Vorbereitungszeit haben und im Alltag nicht mit den in einer Katastrophe auftretenden Krankheiten konfrontiert werden, genauso wenig mit den Arzneimitteln, die dann dafür eingesetzt werden müssen.

Wie lange dauert es, ein solches Handbuch für die Katastrophenpharmazie zu erstellen?

In meinem Fall habe ich zwei Vollzeitjahre investiert. Insgesamt hat es fünf Jahre gedauert, denn ich schrieb das Manual ja nur in meiner Freizeit. Und mir war dann auch schnell klar, warum ein solches Buch bislang nicht existierte: Es ist zeitaufwändig, man muss sehr akribisch sein und eigentlich kann es niemand wirklich gerecht bezahlen. Es ist eine Knochenarbeit. Sehr viel Information muss gefiltert und gegengecheckt werden. Man kann nicht einfach aus den Quellen abschreiben. Ein Beispiel: Albendazol wird hier bei einem nicht häufig vorkommenden Hund- oder Fuchsbandwurmbefall eingesetzt. International hat der Wirkstoff ein breiteres Anwendungsgebiet und damit passen die uns geläufigen Gegenanzeigen und Wechselwirkungen nicht für die Nothilfe. Das führt zu weiterer Recherche und so war es bei vielen Wirkstoffen.

Über welche Quellen haben Sie sich die nötigen Informationen beschafft?

Ich habe mit der WHO-Literatur, den Büchern der Ärzte ohne Grenzen und den internationalen Fachinformationen gearbeitet.

Waren Sie selbst schon im Katastropheneinsatz?

Ja und ich schule zudem seit Jahren Einsatzkräfte für die Nothilfe; zusätzlich berate ich ehrenamtlich Kollegen, die ihre Apotheken für den Notfall vorbereiten müssen.

Enthält das Interagency Emergency Health Kit Ihrer Meinung nach wirklich die wesentlichen Wirkstoffe oder vermissen Sie bestimmte Medikamente?

Es ist eine sehr gute Basisselektion – ausbauen kann man immer. Ein weiteres Antibiotikum und ein Antihistaminikum wären hilfreich. Wenn man aber den Einsatz dieser Arzneimittel beherrscht, weil man es vorher trainiert hat oder sich die nötigen Informationen besorgt hat, dann kann man auch mit dieser spartanischen Ausrüstung sehr gute Arbeit leisten.

Das Manual 2017 wurde im Juli veröffentlicht. Haben Sie es vorher schon von Einsatzkräften testen lassen?

Ja, die vorhergehende Version, das Manual für das IEHK 2011/15, war bei den Katastrophenhilfs-einsätzen der Apotheker ohne Grenzen dabei – unter anderem beim Erdbeben Nepal 2015 sowie nach dem Hurrikan Matthew 2016 auf Haiti und bei der Hochwasserkatastrophe in Mosambik im Frühjahr 2019. Die Kollegen sind begeistert und dankbar; die Durchlaufgeschwindigkeit der Patienten hat sich enorm gesteigert und sie fühlen sich sicherer im Umgang mit diesen Wirkstoffen.

Warum gibt es das Manual nur auf Papier und nicht digital?

Weil die Arbeit in der Katastrophe für Papier spricht. Man hat nicht immer ausreichend Strom für eine Version auf dem Tablet zur Verfügung. Die Kollegen arbeiten häufig im Freien, dann spiegeln die Bildschirme und man nur kann schlecht lesen. Feuchtigkeit, Staub und hohe Temperaturen sind schlecht für Handys, Laptops und Tablets. Die Geräte können auch entwendet werden. Und – man sieht die Informationen auf einer Seite auf dem Papier schneller als wenn man erst umständlich scrollen muss. Die Kollegen, die wiederum hier mit Pocketversionen von relevanten Büchern arbeiten, schimpfen immer, dass die Schrift so klein ist und man nichts erkennen kann. Deshalb habe ich mich für Papier und ein A4-Format entschieden, das ist gut lesbar, auch wenn man im Stehen arbeitet.

Kann man mit dem Manual gleich loslegen, wenn der nächste Emergency Call kommt?

Es ist selbsterklärend aufgebaut, allerdings sollte man zu dem Arzneimittelsortiment mindestens eine kurze Einführung gehabt haben. Ganz einfach deshalb, weil man im Einsatz keine Zeit investieren sollte, in Dinge, die man vorher schon vorbereiten kann – die Patienten warten ja. Als internationales Hilfspersonal haben wir auch die Verpflichtung, geschult in den Einsatz zu gehen.

Wenn nun Hilfsorganisationen interessiert sind, Sie für eine Schulung einzuladen, wie kann man Sie erreichen?

Am besten über den ThinkTank-Verlag. Er koordiniert meine Termine, wenn ich Argentinien bin und in Buenos Aires in der Slum-Apotheke arbeite.